- Montesquieu: Die »Querelle des anciens et des modernes«
- Montesquieu: Die »Querelle des anciens et des modernes«Erst nachdem Papst Gelasius gegen Ende des 5. Jahrhunderts das Wort »modernus« als Bezeichnung des Aktuellen und Gegenwärtigen in die geistesgeschichtliche Auseinandersetzung eingeführt hatte, stand eine angemessene Begrifflichkeit zur Benennung des profunden, vielgestaltigen und folgenreichen Gegensatzes zwischen Traditionsanhängern und Neuerern zur Verfügung. Diesen hatte es schon in der griechischen und römischen Antike, im Mittelalter und in der Renaissance gegeben. Jene »Querelle des anciens et des modernes«, »Der Streit zwischen den Alten und den Modernen«, die die letzten Jahrzehnte des 17. und die ersten des 18. Jahrhunderts in Frankreich prägte, war jedoch etwas ganz Besonderes: Nur vordergründig drehte es sich um kulturelle Modelle und Vorbilder, die man zu wählen hatte; eigentlich drückte dieser Streit ein fundamentales Krisenbewusstsein aus, das sich aus den neuesten naturwissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen speiste und nach entsprechend veränderten geistigen, politischen und sozialen Orientierungspunkten suchte.In einer ersten Phase der »Querelle« stellte sich auf der Suche nach einer spezifisch nationalen Dichtung einigen Autoren die Frage, ob nicht an die Stelle von Mythos und heidnischer Magie christliches Wundergeschehen zu treten hätte. So besang zum Beispiel Desmarets de Saint-Sorlin in seinem Epos »Chlodwig oder das christliche Frankreich« unter Beschwörung der »unvergleichlichen poetischen Kraft des Christentums« die nationalen und religiösen Ursprünge des französischen Königtums. Auf diese erste Wendung gegen die absolute Vorbildlichkeit der Antike folgte eine zweite, die sich aus der Kontroverse, welche Sprache man auf nationalen Monumenten verwenden sollte, entwickelte: Als man 1676 einen Triumphbogen für Ludwig XIV. errichten wollte, plädierten die »Alten« für einen lateinischen Text, die »Modernen« verwiesen mit Nachdruck auf die Überlegenheit und Vollkommenheit des Französischen.Es rumorte also schon einigermaßen heftig zwischen denjenigen, die die antike Kultur für den einzigartigen Höhepunkt geistiger und sittlicher Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen hielten, und denjenigen, die davon ausgingen, dass Technik und Wissenschaften, Künste und Institutionen in ihrer geschichtlichen Entwicklung einem ständigen Vervollkommnungsprozess unterworfen sind, sodass die Gegenwart in all ihren Erscheinungsformen der Vergangenheit immer überlegen sein musste. Ausgerechnet die ehrwürdige Académie française wurde zum Forum dieser Ansicht der »Modernen«, als Charles Perrault dort 1687 sein Gedicht »Das Zeitalter Ludwig des Großen« vortrug.Damit konnte das literarische Schlachtgetümmel beginnen: Man tauschte Epigramme aus, die beleidigten und verunglimpften, man fädelte Intrigen zur Aufnahme in die Académie ein, und die großen Verteidiger der »Alten« teilten ihre Ansichten in weiteren Schriften mit: La Fontaine feierte in einem »Brief an Huet« die verehrungswürdigen Dichter der Antike, La Bruyère machte sich in seinen »Charakteren« über einzelne »Moderne« lustig. Boileau, Perraults wichtigster Gegner, wies in den »Überlegungen zu Longin« unter anderem darauf hin, dass die jahrhundertelange Wertschätzung bestimmter antiker Autoren zugleich Nachweis ihrer besonderen, einmaligen Qualität sei. Aber auch die Gegenseite blieb nicht müßig: Perrault verfasste seine vergleichende »Gegenüberstellung der Alten und der Modernen«, die sich auf alle Künste und Wissenschaften bezieht und die Vorstellung eines überzeitlich gültigen Schönheitsideals durch die Idee eines relativen Schönen ablöst, das sich in jeder Epoche neu verwirklicht, und Fontenelle entlarvte in seinem »Exkurs zu den Alten und zu den Modernen« mit leichter Hand die Unsinnigkeit mancher Argumente der »Alten«.Fontenelle dachte dabei noch nicht in historischen Epochen und an ihren spezifischen Eigenwert, sondern an einen, zum Beispiel in der Antike, einsetzenden Prozess, der im Laufe der Zeit zwingend zunehmend vollendete Ergebnisse hervorbringt. Die Tage allerdings dieser humanistisch inspirierten, statischen Geschichtsauffassung waren gezählt. Mit Montesquieu begann sich allmählich jene Form der Deutung der Historie durchsetzen, die Einzelphänomene in ihrer Entwicklung sieht und das Individuum in seiner Einmaligkeit und Zeitgebundenheit vorstellt. Damit verlor auch die Antike ihren Charakter als zeitlos gültiges Kulturmodell. Dies zeichnete sich bereits deutlich am Ausgang der letzten Episode der »Querelle« ab, einem Streit über eine adäquate Homer-Übersetzung, in dem sich das Publikum für die Variante entschied, die es für moderner hielt.»Den Streit um die Alten und Modernen sehe ich gern. Er lässt mich erkennen, dass es gute Werke bei den Alten und bei den Modernen gibt«, schrieb Charles Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu, in seinen »Gedanken«, und er belegte damit nicht nur das Ende jener »Querelle des anciens et des modernes«, die d'Alembert 1754 als »wenig nützlich« bezeichnen wird, sondern offenbarte auch und vor allen Dingen Weite und Liberalität seines an Antike und Gegenwart, an Naturwissenschaften und Philosphie, an der Geschichte des Morgen- und des Abendlandes geschulten Denkens. Drei Werke sind es, mit denen er sich in das Gedächtnis der Zeiten eingeschrieben hat: die »Persischen Briefe«, die »Betrachtungen über Ursachen der Größe und des Verfalls der Römer« und schließlich »Vom Geist der Gesetze«.Der Briefroman »Persische Briefe« besteht aus fiktiven Briefen, datiert von 1711 bis 1720, den Jahren des Endes der Herrschaft Ludwigs XIV. und der beginnenden Régence. Verfasst sind sie zu einem großen Teil von zwei reichen Persern, Usbek und Rica, die eine Europareise machen, sich jedoch hauptsächlich in Frankreich aufhalten. Einigen ihrer Landsleute schildern sie ihre Eindrücke. Von ihren Haremsdamen oder den Eunuchen erhalten sie Nachricht über Ereignisse in ihrem Land, so besonders Usbek über die dramatischen Entwicklungen in seinem Harem, die im Selbstmord seiner Lieblingsfrau Roxane gipfeln.Das einzigartige Lesevergnügen, das die »Persischen Briefe« bereiten, beruht auf den satirischen Schilderungen der Pariser Sitten und der westeuropäischen Gebräuche, die vor allem die Briefe Ricas aus der künstlich erzeugten Perspektive des exotischen Fremden liefert: Ludwig XIV. wird zum großen Zauberer, der Geld durch einfache Festsetzungen verdoppeln kann, der Papst täuscht die Menschen, wenn er ihnen sagt, drei sei gleich eins, und die Pariserin türmt ihre Haare so hoch auf, dass sich ihr Gesicht in der Mitte ihres Körpers befindet - was wiederum die Architekten dazu zwingt, ständig die Türstürze zu erhöhen. Doch hinter dem brillant formulierten Spaß verbirgt sich der ernste Moralist Montesquieu, der die Institutionen kritisierte, deren unkontrollierte Macht gewalttätig und unheilvoll wirkt, der für Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz eintrat. Die Satire über Frankreich und die tragische Liebesgeschichte aus dem Harem werden so zu zwei Seiten einer Medaille, die die privaten und öffentlichen Verstrickungsmöglichkeiten des Individuums abbildet, wenn nicht Maß, Einsicht und Ordnung herrschen.Diese Kriterien prägen auch die »Betrachtungen über Ursachen der Größe und des Verfalls der Römer«, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den vorbereitenden Arbeiten für den »Geist der Gesetze« entstanden sind: Nach seinem glanzvollen Aufstieg zur Weltmacht verliert Rom seine Freiheit an Despoten, und die alten republikanischen Tugenden verschwinden. Mit diesem ebenso gelehrten wie moralistisch-philosophischen Werk, das von der Vorstellung erfüllt ist, die Geschichte sei die Lehrmeisterin des Lebens, belegte Montesquieu seine Überzeugung, dass »es allgemeine, moralische oder physische Gründe gibt, die in jeder Alleinherrschaft wirksam sind, die sie entstehen lassen, sie aufrechterhalten oder sie stürzen; alle Ereignisse sind auf diese Gründe zurückzuführen«.Dieses Kausalitätsdenken beherrscht auch das Hauptwerk des Autors »Vom Geist der Gesetze«, in dem die Umrisse individueller Erscheinungen durch logisch-rationale Erklärungen eine vorher nicht gekannte Klarheit gewinnen. Der Verfasser entwirft in dieser ersten Manifestation der politischen Soziologie staatstheoretische Grundanschauungen wie etwa die vom Prinzip der Gewaltenteilung, das in die Verfassungsgeschichte der Neuzeit einging. Zentrales Anliegen Montesquieus war die Bewahrung von Freiheit, Tugend und Glück in einem komplexen Gemeinwesen, das zugleich gegenüber seinen Bürgern vielfältige Pflichten zu erfüllen hat. Dieses Gemeinwesen beruht in seiner Eigenheit auf dem Geist eines Volkes und seinen Empfindungen. Das Werk artikulierte darüber hinaus große Themen der Aufklärung: die Abkehr von einem absoluten Königtum, die Verurteilung der Sklaverei, die Anprangerung der grauenhaften Ausschreitungen der Inquisition. Im Ton aber blieb Montesquieu bei allem Engagement gemäßigt, ironisch, vielleicht herb, ein skeptischer Reformer, der sich keine Illusionen über die Natur des Menschen machte, sondern sie mit den Möglichkeiten der Vernunft an die Unvernunft der Geschichte anpassen wollte.Dr. Wolf-Dieter LangeFranzösische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a.31994.
Universal-Lexikon. 2012.